Dienstag, 26. November 2013

Tallinn, Tallinn, du bist so wunderschön!

Mitgezählt habe ich nicht, das wievielte Mal es nun gewesen ist, aber ich habe es wieder getan:
Ich war in Tallinn!



Letzte Woche hatte ich mein verspätetes MidTerm-Seminar in der Nähe von Tallinn und da ich eine Woche zuvor an einem Sonntag vorgearbeitet hatte, nahm ich mir den Freitag vor dem Seminar, das am Montag begann, frei, um ein verlängertes Wochenende in Tallinn vorzulagern - in einer Stadt, die ich zu lieben gelernt habe.

Wo soll ich also anfangen?

Vielleicht bei meiner neuen "Fähigkeit", Dinge liegen zu lassen, zu zerstören oder zu verlieren, denn bevor ich mich mit Krissi, bei der ich übernachtete, treffen konnte, hatte ich noch einige Stunden Zeit in Tallinn, die ich im Gildenhaus des "Eesti Ajaloo Muuseum" (estnischen Geschichtsmuseum) verbrachte, in der verschiedene Ausstellungen in einem alten Gildensaal der deutschbaltischen Hansagilder der "Schwarzhäupter" über die Geschichte der Esten berichten.
Kurzfassung der Geschichte der Esten:
Wie viel gute Laune ein wenig Sonne doch bringen kann!
Die Esten kamen vor tausenden Jahren aus dem Ural in Richtung des heutigen Estlands, wo sie sich bald als heidnisches Bauernvolk einrichten. Sie zelebrierten die Verbindung zur Natur und führten ein beschauliches Leben. Da das estnische Land samt Boden, Natur und Wirtschaftlichkeit ein sehr günstiger Standpunkt ist, besetzten im Laufe der Jahrhunderte Dänen, Polen, Schweden, Deutsche Kreuzritter, Russische Zaren, die Sojwetunion und das deutsche Reich Estland - dabei beinahe IMMER mit der Folge, dass die Esten die Leibeigenen in ihrem eigenen Land gewesen sind und keine faktischen Rechte besaßen. Religionen, Werte und Normen wurden dem Volk aufgedrängt, die eigene Kultur der Esten unterdrückt und viele Esten ermordet und geknechtet. Nach der sozialistischen russischen Revolution erhielten die Esten 1921 das erste Mal ihren eigenen Staat. Nach langer sozialistischer Besetzung ab den Zeiten des zweiten Weltkrieges im Folge des Molotov–Ribbentrop Paktes konnten sich die Esten 1991 freisingen und feiern ihre zweite Republik.

Soweit so gut. Nach dem Museumsbesuch fiel mir leider auf, dass mein Schließfachschlüssel nicht mehr an seinem angestammten Platz in meiner Jackentasche lag, sondern dass sich meine Finger an jener Stelle durch ein Loch schälen mussten. Nachdem ich noch einmal alle Plätze abgegangen war hob ich 50 Euro von meinem Konto ab (die Strafe für den Schlüsselverlust) und ging zum Infopunkt des Autobusbahnhofs.
An dieser Stelle ein großes DANKE an Kaire vom Infopunkt und Oleg vom Sicherheitsdienst, die mich nach einer Unterschrift samt Rucksack aus dem Fach gehen lassen haben. Auch wenn sie es nicht lesen werden: DANKE! AITÄH!


Es folgten jedoch ein paar schöne Tage in Tallinn, an denen ich die Zeit nutzte, auch an mir noch unbekannte Orte zu gehen, so wie etwa in das KUMU-Kunstmuseum (die estnische Nationalkunstgalerie), in das Zarenschloss in Kadriorg (zu deutsch Katharinenthal) oder zum Denkmal der im 19 Jahrhundert untergegangen Fähre Russalka.

Ein sehr angenehmer Höhepunkt war dabei der Kinobesuch im eleganten Kinosaal "Sõprus", einem richtig galanten Saal, wie man ihn sich aus den 50er Jahren vorstellt - ein Kronleuchter baumelt von der Decke und die Wände sind in edlen Farben gestaltet.

In Tallinn findet zurzeit das größte Filmfestival Nordeuropas, das sogenannte „PÖFF“, statt. PÖFF steht für „Pimedate ööde filmifestival“ oder zu Deutsch „Filmfestival der dunklen Nächte“. In dessen Rahmen richtet wiederum das estnische Goetheinstitut Tallinn erneut das Kleinfestival „Uus saksa film“ (Neuer deutscher Film) aus, in dem ausgewählte deutsche Produktionen gezeigt werden. Krissi und ich wollten uns also den ersten Film auf dem Programm „Finsterworld“ ansehen. Kurz vor Beginn der Vorstellung stürmten wir erfüllt von der Angst keine Tickets mehr zu bekommen in den Saal. „Habt ihr Tickets?“ fragte mich eine elegant aussehende Frau in einem roten Cocktailkleid. „Nein, wir wollten gerade welche kaufen!“, sagte ich. Darauf erwiderte sie: „Wisst ihr, heute ist so ein toller Tag. Wir schenken euch welche!“, drückte mir zwei Scheine in die Hand und verschwand. Gespannt gingen wir in den Festsaal und fanden uns inmitten von schick gekleideten Menschen wieder, die alle Weingläser in den Händen hielten. Mit meiner hellgrünen Regenjacke kam ich mir dezent fehl am Platz vor, aber dennoch begab ich mich samt Weinglas (kostenlosen Wein lehnt man ja nicht ab) auf meinen Platz und es folgte die „Eröffnungsgala“ für das deutsche Filmfestival samt Botschafter, Vorsitzenden des deutschen Goetheinstitutes, sowie dem Cutter des Filmes. Nach dem doch sehr surrealen Film folgte dann auch noch eine Diskussion. … und das alles für lau.
Einen weiteren Bericht vom Abend gibt es HIER.
Ein weiterer Höhepunkt war der Besuch im Vorort Nõmme, der erst vor einer nicht allzu großen Zeit überhaupt zu Tallinn angegliedert wurde. Der Stadtteil war eine Planstadt eines Investoren, der Teile seines Landes verschenkte, um einen Ort entstehen zu lassen. Heute befinden sich in Nõmme viele Parks und ein sehr schöner Markt, der es wert ist, besucht zu werden. :)
Denkmal an den Gründervater von Nõmme

Blick in die Markthalle

Statue des Kalevipoeg, eines estnischen Nationahelden
Das Warnschild am
Übungsgelände

Am Montag jedoch brach ich zum Busbahnhof auf, nicht etwa um zurück ins Dorf zu gelangen, sondern ich steuerte auf einen Kleinbus mit dem Zeichen „Europa Noored“ (Jugend Europas) zu, der mich zu meinem Zwischenseminar bringen sollte. Der Bus war von der estnischen Freiwilligenagentur angemietet worden und nahm neben mir noch als Freiwillige drei Spanier, einen Türken und einen Italiener, sowie die zwei estnischen Trainer Margus und Kristi mit. Margus kannte ich bereits von meinem ersten Seminar in Estland. Da ich zu meinem ursprünglichen Zwischenseminar mit Mandelentzündung im Bett lag, kannte ich keinen von den mich umgebenden Freiwilligen. Alle waren älter als ich und schon gemeinsam auf dem Erstseminar gewesen. Das störte jedoch nicht und so erwarteten uns vier schöne Tage mitten in der Waldeinsamkeit von Leppoja. Leppoja ist ein Ferienhaus mitten in einem Naturschutzgebiet, in etwa 30 Minuten Autofahrt von der nächsten asphaltierten Straße entfernt. Auf der Hinfahrt durch den Wald fiel mir nicht nur die andere und doch so ähnliche Aussicht im Vergleich zu „meinem Wald“ in Maarja Küla auf, sondern auch die Pfosten, die teils neben der Straße in den Boden gesetzt waren und „militärisches Übungsgelände“ ankündigten. Zu Sowjetzeiten war das gesamte Gelände Luftwaffenübungsgebiet gewesen, heute ist der Teil, der dem Militär gehört, wesentlich kleiner.

Schließlich erreichten wir jedoch Leppoja und fanden uns im siebten Himmel vor. Gemütliche Blockhütten mit bequemer Einrichtung und urigen Holzöfen standen uns gegenüber. Bei den Mahlzeiten wurden wir vom Betreiberehepaar regelrecht gemästet. Es gab reichhaltige Mahlzeiten, selbstverständlich immer mit Kuchen oder selbstgemachter Torte zum Nachtisch, und sogar zu den Kaffeepausen reichhaltige Snacks. Jeden Abend wurde die Sauna aufgeheizt.

Eines der Häuser von Leppoja
Auf dem thematischen Programm standen Probleme und Situationen unserer Projekte, des Freiwilligendaseins und kulturelle Hürden. Wir führten auch sehr intensive Gesprächsrunden über andere Themen. So befassten wir uns mit Kulturschocks, dem Erfahrungsaustausch und vielen weiteren Dingen. Auch praktisch ging es ans Werk, so wanderten wir mehrmals in einem Wald, in dem auch Elch, Bär, Wolf und Luchs zu Hause sind (leider konnten wir jedoch niemanden davon erblicken) – an einem Abend von 5 bis 11 Uhr schafften wir es sogar an die 23 Kilometer zu laufen. An jenem Abend durchschritten wir im Dunkeln das Sumpfland der Umgebung, als wir an einer Feuerstelle ein Lagefeuer entfachen wollten. Beim Heruntertreten in die Senke hieß es alsbald „Dort ist noch Glut!“ und als wir gerade das vorbereitete Feuerholz aus dem Unterstand entnehmen wollten, fiel das Licht einer Stirnlampe auf ein kleines Zelt.
Der Zeltende entpuppte sich als Erik, ein junger IT-Unternehmer an Tallinn, der mit drei Freunden eine App-Firma gegründet hat und gerade nur auf Heimurlaub ist, nachdem er einen Monat auf Bali verbracht hat, wohin er seine Firma verfrachten möchte. Natürlich ist diese Waldbegegnung noch nicht beendet, schließlich fand sie in Estland statt, dem Land in dem jeder mit jedem über 30 Ecken bekannt oder sogar verwandt ist. Nun stellte sich nämlich heraus, dass dieser junge Mann, den wir halb neun am Abend in tiefster Dunkelheit mitten im nordestnischen Wald eines Naturschutzgebietes beim Wandern getroffen haben, ein Bekannter von Ly Mikheim (der Leiterin von Maarja Küla) ist.
Dies passiert in Estland öfter, denn hier sind alle Menschen vernetzt und irgendwie kennt man sich wie in einem großen Dorf mit eineinhalb Millionen Einwohnern.
Außenansicht der Rauchsauna vom Vordach aus.
Am letzten Abend des Seminars wartete die „Suitsusaun“ (Rauchsauna) auf uns, an der wir zu fünft teilnahmen. Die Situation ähnelte stark dem Beginn eines schlechten Witzes: „Ein Türke, ein Spanier, ein Este, ein Deutscher und ein Italiener sitzen in der Sauna …“
Doch was ist nun eine Rauchsauna? Rauchsaunen sind anders gebaut als normale Saunen. In Rauchsaunen befinden sich Feuerofen und Sitzbänke im gleichen Raum ohne Abzug. Das Feuer wird den Tag über angeheizt, sodass sich die Sauna aufheizt. Dabei zieht der Rauch durch die Sauna selbst, da ja kein Abzug vorhanden ist. Das führt dazu, dass der ganze Innenraum und auch der Außenraum um Tür und Luken herum eingeschwärzt sind.

Typisch für die Rauchsauna: Saunageister
Bekommt man Rußflecken, so heißt es,
hat einen der Saunageist berührt
 Direkt vor der Benutzung werden alle Türen und Luken geöffnet, sodass die Sauna vom Rauch selbst befreit wird, und die Glut wird aus dem Ofen entnommen. Dann werden Türen und Luken wieder geschlossen und die Sauna ist zur Benutzung bereit. Rauchsauna ist vor allem ein Brauch aus Südestland. In Nordestland und Finnland existierte der Brauch auch, ist jedoch irgendwann in Vergessenheit geraten. Das Sitzen in der Rauchsauna kam einer Meditation gleich. In der rauchigen Hitze bekommt man schnell ein leichtes Trunkenheitsgefühl, auch ohne etwas getrunken zu haben. Es gibt verschiedene Sagen und Mythen über Saunen und insbesondere Rauchsaunen. Beispielsweise, dass es Glück bringe dreimal Wasser zu werfen (was in der Rauchsauna schon eine Herausforderung ist, da das Atmen selbstverständlich viel schwerer fällt als in einer normalen Sauna) und ein Folklorelied zu singen, wobei man erst aus der Sauna rennen darf, wenn der letzte Ton gesungen ist, was wir dann auch taten.
Wie in Finnland klopft man sich gerne auch einmal kräftig
gegenseitig mit Birkenzweigen ab. Das verleiht ein
stärkendes Gefühl und fördert den Blutfluss.
Nackig rannten wir dann gleich weiter um durch den Regen in den eiskalten See zu springen. Stufe, Stufe, Platsch. Ein Gefühl von tausend Nadelstichen, dass so befreiend ist, dass man es nicht beschreiben kann. Dafür ähnelt man bestimmt optisch auch einem Hund, der ins Wasser geworfen wird, da man so schnell wie möglich wieder nach dem Land hascht und zurück Richtung Sauna rennt. Akustisch ähnelten die Schreie bestimmt denen von Schulmädchen.
Eine sehr angenehme Erfahrung von 5 Saunagängen, 5 Rauchsaunagängen und 5 Sprüngen in den See bot der Abend auf jeden Fall.

Ein wenig wehmütig war dann auch wieder der Abschied nach den schönen Seminartagen, aber es bleibt ja die Erinnerung daran.  Genossen habe ich auch die paar Tage, die ich (von mir aus) ohne Computer und mit einem Handy im Flugmodus verbracht habe.
Im Anschluss verbrachte ich noch einen schönen Abend in Tallinn, an dem ich mit Krissi und Eva (ihrer Mitbewohnerin, die auch deutsche Freiwillige ist) den deutschen Stammtisch besuchte, der zweimal monatlich im „Schnitzelhaus“ in Tallinn stattfand. Neben einem Schnitzel und Bier gab es auch Geschichten von den Anwesenden, die meistens Lehrer am deutschen Gymnasium in Tallinn sind.

Langsam rennt die Zeit vorbei. Meine 12 Monate offiziellen Dienstes sind bald vorbei, es naht schon das Ende des elften Monats. Die Tagesplanung fällt zwar schwer, ist es doch nun schon um 4 wieder dunkel, aber dennoch bleibt viel zu tun und zu erleben. Zum Beispiel erwarten mich noch die Adventszeit, ein Trip zu den Weihnachtsmärkten in Helsinki, Tartu und Tallinn und wie immer viele Geschichten aus Estland. J

Päikest,
Marcel

Dienstag, 12. November 2013

Kuula Palun! 2013

Schon eine kleine Zeit ist es her, aber dennoch möchte ich euch noch ein paar Fotos von letzter Woche Montag zeigen, an dem wir in Tallinn zum Besuch des Maarja Küla Benefizkonzertes waren. Es gab zwei Konzerte: Eines in Tartu im Oktober im Vanemuise Theater und nun eines im russischen Kulturzentrum in Tallinn. Ich entschied mich, mein Freiticket für Tallinn zu lösen und so zogen wir als 4 Bewohner und 2 Arbeiter vom Sõbra Maja in einem Pulk von insgesamt etwa 40 Menschen - alle in feinster Abendkleidung - Richtung Tallinn, wo wir nach einer ersten Probe im russischen Kulturzentrum durch die Stadt Richtung Viru Keskus Einkaufszentrum schritten, um etwas zu essen.
Nach einem Versuch innen im Zentrum einen Platz zu finden, gingen wir einmal um besagtes Zentrum herum, um dann doch beim Burgerbrater Hesburger zu landen, wo wir auch auf andere Gesichter trafen und - immernoch in Festkleidung - Burger verzehrten.
Dann ging es jedoch los. Im russischen Kulturzentrum blendeten die großen Leuchten ab und unsere Bewohner ergriffen die Mikrofone. Unser Musikkreis eröffnete mit einer estnischen Folkloreweise, die insbesondere in Setomaa bekannt ist und LEELO genannt wird. Ein Sänger singt einen Kehrvers vor und alle anderen wiederholen diesen.

Unser Musikkreis beim ersten Lied
Ivo Linna, der "Vater des Programmes" und Alo Kurvits
Keine Ahnung, wie die heißen, aber langbeinige Frauen
machen sich auf einem Blog immer gut ;-)
Die Bühne voll für das letzte Lied

Nach einer kurzen Ansprache folgten viele Stücke eines so unterschiedlichen Repertoires, dass von stimmungsvoll bis zu melancholisch und rockig von allem etwas vertreten war. Uhrheber und Galleonsfigur war der - in Estland - bekannte Sänger und Songschreiber Ivo Linna, den ich nach deutschem Maßstab mit Peter Maffay vergleichen möchte.
Viele junge Schauspieler/innen und Sänger/innen, aber auch der Meister selbst, malten das Programm des Abends in bunten Farben auf die Bühne - just unter den Schein von Hammer und Sichel, die den Rahmen der Bühne des in Sowjetzeiten gebauten Theaters schmückten.



In der Pause und im Anschluss wurden im Foyer auch noch Güter von unseren Werkstätten verkauft.
Die zusammengetragene Summe soll zum Bau eines neuen, großen Gewächshaus für die Vorzucht von Pflanzen dienen.

Hier einmal zum Mithören ein schönes, emotionales Lied, das ich vorher auch schon kannte und das mir selbst sehr gefällt. "Vana Vaksal" von Ivo Linna singt vom "alten Bahnhof", von dem aus er so oft in die Welt enttritt. Viel Spaß beim Reinhören





Die Stimmung beim Konzert zu beschreiben ist schwer, ich würde es aber gerne mit "emotional aufgeladen" versuchen. Insbesondere beim letzten Lied, als alle Musiker mit den Bewohnern auf der Bühne standen, war die Stimmung am Kochen. Ein toller Abend und ein wunderbares Konzert!
Im Anschluss zog es uns samt Bewohnern und Schauspielern und Sängern in den "Venus Club", eigentlich einen Stripclub, aber an diesem Abend trohnten auf dem Thresen weder Männer noch Frauen, sondern vielmehr Speisen und Getränke. Nach einigen feuchtfröhlichen Stunden bestiegen wir dann den Bus und gegen 4 Uhr morgens fiel ich auch in mein Bett.





Ein herzliches DANKE an alle Beteiligten und Besucher
für einen wunderbaren, gefühlvollen  Abend.

AITÄH!
Marcel

Samstag, 2. November 2013

Stromlos glücklich

Da war er wieder einmal weg.
Hatte ich doch gerade ersteinmal von einem Stromausfall berichtet, so rollte auch schon der Sturm, der Europa in Atem hielt, in Estland ein.
Für uns bedeutete das zunächst einmal nur rauschenden Wind und knickende Ästchen, als wir Montagnacht vom Schülerwohnheim nach Maarja Küla zurückgefahren wurden. Mirjam, Alina und ich hatten den Abend bei den Schülern, die das Schulprojekt von Montag bis Donnerstag besuchen, verbracht, damit die zwei Arbeiter, die dies gewöhnlicherweise tun, am Abend zum ersten Benefiztkonzert von Maarja Küla gehen konnten. Am nächsten Montag steht dann das zweite Konzert, diesmal in Tallinn, an, das wir dann auch besuchen werden.
Der Abend war sehr angenehm und entspannend und es war schön, auch einmal die Schüler kennen zu lernen, die nun ja immerhin jeden Tag für viele Stunden im Dorf sind.
Als wir nach hause gefahren wurden, zeigten sich schon die vielen kleinen Zweigchen, die von den Bäumen geweht wurden. Der Wind rauschte durch den Wald.
Dennoch gingen wir bei Strom, Licht und fließendem Wasser zu Bett.
Als wir jedoch am nächsten Morgen erwachten, war der Strom bereits weg und so ging ich ins estnische Haus zur Arbeit, wo wir das erste Mal seit Langem, wie ich mich zu erinnern vermag, keinen warmen Brei, sondern "nur" Brote hatten. Langsam rollten auch die Informationen herein, dass halb Südestland ohne Strom ausharrte und nur Põlva im Landkreis noch Strom hat - ist es ja auch gleich Ort der vielen Geschäfte, Einrichtungen und des Landkreiskrankenhauses. Alle anderen Orte zwischen Võrtssee und Peipussee, von Elva bis Värska und Räpina mussten auf Strom verzichten. Auch Viljandi und Tartu sollen zwischenzeitlich Probleme mit dem Strom gehabt haben.
Für uns bedeutete das im Klartext: Kein Strom, kein Licht, kein Internet, kein fliessendes Wasser, keine Heizung. Zum Mittagessen bekamen wir Suppe, die für 70 Menschen in einem Imbiss in Põlva bestellt wurde, ebenso wie jede Menge Trinkwasser, dass ebenso für uns aus Põlva geholt wurde. Wasser für die Toilettenspülung gab es derweil aus dem Dorfteich. Als wir am Nachmittag zum Dorfeinkauf fuhren, erfuhren wir per SMS, dass der Strom wohl wieder da war, was jedoch auch nur kurz anhielt. Mit Kerzen, Lampen und Essen, sowie Trinkwasser im Schlepptau ging es dann zurück ins Dorf, wo an allen Ecken und Enden in den Häusern Taschenlampen und Kerzen aufgestellt wurden. Kopflampen ergänzten zudem das Aussehen von vielen, darunter auch mir.
Es ist schon seltsam, eine Bewohnerin mit Kerzen und Kopflampe zu wickeln, sowie im Dunkeln Essen zu bereiten, ist es doch bei uns jetzt schon um 5 dunkel.

Den Abend verbrachten wir dann mit Tee (eine Mitarbeiterin wohnt ein Dorf weiter und besitzt einen Holzofen, mit dem sie uns Teewasser gekocht hat) uns Keksen bei Kerzenschein. Eigentlich ein sehr angenehmer, gesellschaftlicher Abend - anstatt nur vor dem Fernseher zu sitzen. Später saßen wir Freiwilligen dann noch bei Kerzenschein zusammen. Eigentlich angenehm, wenn mal der Strom weg ist.
Am nächsten Tag war der Strom dann jedoch wieder da, wobei man sagen muss, dass ich fließend Wasser und Heizung mehr vermisst habe als den eigentlichen Strom und das Licht.
Einen weiteren Tag später war dann auch wieder alles im Lot. Fast alles.
Gerade waren Mirjam, ich und ein Bewohner im Wald zum Spaziergang, als wir folgendes sahen:




Zunächst gingen wir davon aus, dass jemand Laub verbrennt, was jedoch eigentlich ein sinnloser Gedanke war, denn um uns herum wohnt niemand, der dies hätte tun können. Bei näherem Hinsehen und vor Allem Hinhören (ein lautes *BZZZZZZ*) erkannten wir dann, dass sich von den Stromleitungen, die durch den Walt verlaufen, zwei gelöst hatten und auf den Boden gefallen waren.
Vor lauter Schreck wusste ich gar nicht, was zu tun sei. Mirjam rief im Dorf an, ich rief sofort den Notruf - zitternd und fürchtend, die Frau am anderen Ende nicht zu verstehen. Doch alles lief gut und nachdem ich der Frau zum fünften Mal erklärt hatte, wo wir uns befanden, sprintete ich mit dem Bewohner an der Hand zurück, was diesem so gar nicht gefiel, war er doch eher von gemütlicher Natur. Am Dorfeingang wartete ich dann auf den großen roten Wagen, der dann sehr schnell eintraf.
Mit einem Feuerwehrmann ging ich die Strecke bis zum Ort ab. Der Strom wurde inzwischen von der Stromfirma abgeschaltet. Als dann auch die Elektriker an Ort und Stelle waren, hieß es "aufatmen" und wir zogen uns zurück. Die Leitungen wurden ausgetauscht und wir hatten alle eine Geschichte zum Erzählen. Geht man heute die Strecke an den Stromleitungen ab, kann man die Schneise deutlich sehen, wo die Leitung den Boden berührte: Ein schwarzes Band zieht sich am Boden entlang, gefolgt von abgebrannten Büschlein.
Ein Glück, dass es zuvor geregnet hatte und der Boden naß war.

So vergingen dann wieder ein paar Abenteuer im estnischen Wald, ich hatte mit meinem Estnisch eine wahrhafte "Feuerprobe" (Entschuldigung für das schlechte Wortspiel) und wir konnten alle einmal sehen, wie abhängig wir doch vom Strom sind.

Terved tervitused,
Marcel