Montag, 28. Oktober 2013

Eine Stadt, Zwei Staaten


Was ist an diesem Bild so besonders?
Sehen wir hier etwa besonderes Laub?
Habe ich mir neue Schuhe gekauft?

Genauer betrachtet scheint an dem Bild nichts außerordentlich spannend.
Das dieses Bild uns doch so einfach möglich ist, verdanken wir der EU - oder besser gesagt dem Schengen-Abkommen, denn während mein rechter Fuß weiterhin in Estland steht, so befindet sich mein linker Fuß auf diesem Bild bereits in Lettland - einem anderen Staat.
Ausgeschildert wie eine Attraktion:
Der Grenzübergang
Dieses Motiv ist wohl eines der häufigsten gewählten Motive jener Touristen, die Valga, bzw. Valka, besuchen. Valga ist eine kleine Stadt am südlichen Rande Estlands, direkt an der lettischen Grenze, und gleich Zentrum des historischen Gebietes Livlands
Keine Tanke, sondern tatsächlich schon der Übergang
Direkt auf der andere Seite des kleinen Grenzhäuschens befindet sich das lettische Örtchen Valka. Das sich die beiden Namen "Valga" und "Valka" ähneln ist keinesfalls Zufall, sondern weist auch auf den Slogan der beiden Städte hin: "Valga/Valka - Eine Stadt, zwei Staaten".
Vor hunderten Jahren wurde hier die Stadt unter dem damaligen Namen Walk gegründet und war seither ein Zentrum estnischer und lettischer Gelehrter, bis bei der ersten Unabhängigkeitserklärung Lettlands 1917 und Estlands 1918 die Frage auftrat, wem denn die Hoheit über Walk gehörte.
Nachdem die Frage unter der Führung eines britischen Schlichters nicht geklärt werden konnte, teilte dieser die Stadt entlang des Dorfbaches. Der leicht größere Ostteil samt Bahnhof und Ordenskirche ging an Estland, der kleinere Ortsteil an Lettland. Zu Sowjetzeiten wurden die Grenzen zwischen der estnischen und der lettischen SSR wieder geöffnet, nach der Unabhängigkeit wieder eröffnet. Erst durch den Beitritt zum Schengenabkommen 2007 wurden die Grenzkontrollen wieder abgeschafft und man konnte die "andere Seite" der Stadt unkompliziert erreichen. Erst 2008 rollten wieder Passagierzüge von Riga nach Valga.
Ein großer begehbarer Zugwagen erinnert an die Eröffnung
der Fernstrecke Riga-Valga-Pskov
Heute warten die Bürger gespannt den 01. Januar 2014 ab, an dem Lettland den Euro einführt, der momentan noch eine große Barriere darstellt, da es sich für die Bewohner momentan zwecks Geldwechsel kaum lohnt, in den jeweils anderen Stadtteil zu gehen. Von der gemeinschaftlichen Währung werden beide Seiten profitieren.
Nachdem wir am Samstag das estnische Nationalmuseum in Tartu unsicher machten,  nutzten wir am Sonntag unseren Abstecher nach Valga, um uns nicht nur die Stadt Valga, sondern auch die lettische Stadt Valka samt deutschem Soldatenfriedhof, sowjetischem Mahnmahl und Sängerbühne anzusehen.
Zudem nutzten wir auch eine der wenigen sinnvollen Zugstrecken Estlands. Da Züge langsamer, teurer und unbequemer sind, lohnen sich nur wenige Strecken in Estland, die besser und günstiger sind als das gut ausgebaute Bussystem.
Züge spielen im gesamten Baltikum daher eher eine untergeordnete Rolle.

Am Mittwoch zuvor erinnerte uns ein kleines Tier, wie abhängig wir doch von Luxusgütern wie Elektrizität sind. Als wir gegen 23 Uhr den Bus von Tartu an unserer Bushaltestelle im Wald verließen und uns auf den Weg ins Dorf aufmachten, sahen wir schon hinter der ersten Waldbiegung: "Etwas ist anders!" Für gewöhnlich erblickt man hinter der Biegung einen kleinen Lichtpunkt am Ende des Weges, doch dieser wollte uns heute nicht ins Auge fallen. Im Dorf angekommen erwartete uns Dunkelheit. Keine Straßenlaternen, keine Notbeleuchtung, kein Licht in den Fenstern. Alles war in Dunkelheit getaucht. In unserem Haus angekommen erfuhren wir, dass gegen 8 Uhr abends der Strom im ganzen Dorf ausgefallen war.
So saßen wir bei Kerzenschein in der leicht ausgekühlten Küche des Vana Maja, kratzten unsere Trinkwasserreste zusammen und unterhielten uns bei warmem Licht und etwas zu essen. Eigentlich war es schon etwas peinlich, wie exotisch diese Sitatution auf uns wirkte.
Gegen ein Uhr nachts kam dann eine Welle an Geräuschen und Farben auf uns zu:
Die Straßenlaternen draußen und die Beleuchtung im Gang erstrahlten wieder, die Heizung begann wieder zu rauschen, das Wasser in den Spülkästen und Leitungen schoß nach. Der Strom war wieder da.
Bei Kerzenschein in der Küche: Markus, Meike (die gerade ein Praktikum in Tallinn macht und uns besuchte) und ich :)

Am nächsten Tag erfuhren wir, dass die ganze Gemeinde Vastse-Kuuste mit allen umliegenden Ortschaften vom Netz abgeschnitten war. Ein Biber hatte sich ein Abendessen geleistet und damit einen Baum auf eine Stromleitung gehetzt. Die Stromleitung zu ersetzen hatte knapp vier Stunden vollen Einsatz gefordert.
Wie große Auswirkungen doch manchmal kleine Dinge - wie das Abendessen eines Nagetiers - in sich tragen.

Mein Abschiedsgruß heute ausnahmsweise einmal auf Lettisch:

Uz redzēšanos!
Marcel

Dienstag, 22. Oktober 2013

0,5 Prozent

Nein, heute geht es nicht um Alkohol. Wobei mir dabei einfällt, dass Kali 0,5 Prozent Alkohol inne hat. Kali das ist estnisches Brotbier. Ähnlich wie das russische Kwass wird es auch Getreiden gebraut - nur eben in Estland aus Brot, wodurch es eben schmeckt wie ein "Glas Brot". Bei Esten ist dieses Getränk der Hit und auch ich habe mich darin verliebt. Ohnehin ehren die Esten ihr Brot - beziehungsweise ihre Brote, denn die Esten haben gleich mehrer komplett unterschiedliche Namen dafür.
Da gäbe es:

1. SAI - Weißbrot, dass zu Zarenzeiten nur die Reichen gegessen haben, da es etwas besonderes wird. Alles süße Gebäck hat irgendetwas mit Weißbrot zu tun. So gibt es Saiake - süße Brötchen - oder Saiavorm - Weißbrotauflauf mit süßen Früchten zwischen Schichten von Brot.

2. SEPIK - Mischbrot, dass gerne auch Körner beinhaltet

3. LEIB - DAS eine Brot, das RICHTIGE Brot. Dunkles Brot in allen Formen und Farben. Keine Mahlzeit ohne Brot. Schon die alten Esten sagten " Küll jumalal päevi, kui peremehel leiba." - "Wohl dem Gott die Tage wie dem Familienvater das Brot!" - das eine wichtige Werk.

4. SAIB - eine relativ neue Wortschöpfung aus "leib" und "sai", das ein Mischbrot bezeichnet, dass sich nur leicht in Konsistenz, Form und Geschmack von "sepik" unterscheidet.

Beim Brot hört der Werdegang von Roggen und Weizen jedoch nicht auf. Nein!
Beim Brot fängt alles ersteinmal an. So wird Brot nicht nur daheim bei allen drei (warmen) Mahlzeiten dazugereicht, sondern auch in Hotels und Restaurants. 


Die estnische Hausfrau (oder seien wir politisch korrekt: auch die estnischen Hausmänner) wissen um die Vielseitigkeit ihres "dunklen Goldes". So bauen viele Gerichte auf einem Leib Brot auf.

Hier einige meiner Favoriten, von denen ich sobald versuche, Rezepte hochzuladen:
  1. Leivasupp:
    Brotsuppe. Ein süßer Nachtisch in Breiform, der gerne warm oder kalt mit Quark, Rosinen oder Milch genossen wird.
  2. Leivavorm/ Saiavorm:
    Brotauflauf wie beschrieben. Schichten von Brot mit dazwischen aufgeschichteten Frischen. Am Besten warm aus dem Ofen mit Milch.
  3. Kali:
    Aus Brot gegärtes Malzbier mit karamelligem Geschmack. Sehr gut eisgekühlt an den wenigen warmen Sommertagen Estlands.
  4. Küüslauguleivad:
    Knoblauchbrot, die es nicht nur zu Estlands beliebtestem Bar-Snack geschafft hat, sondern sogar abgepackt in Supermärkten und Kinos verkauft wird. Geröstete oder gebratene Brotstückchen mit Knoblauch, am liebsten mit Sahnedip. Man reicht die Knoblauchzehe meist separat dazu, die am Brot gerieben wird.
  5. Leivatort:
    Brottorte. Mehrere Schichten Brot neben und übereinander, zwischen denen sich herzhafte Füllungen befinden, die wie eine Torte aufgestapelt werden. Kann alles beinhalten von Fisch bis Schinken, immer jedoch Sahne, Käse und Gemüse.
Und diese Rezepte sind nur einige.
Die Ironie an der Geschichte: In Estland gibt es beinahe keine Bäckereien. Das Brot bekommt man im Supermarkt oder am Kiosk, in südlichen Gegenden am rollenden Kiosk - einem Verkaufs-LKW der an festgelegten Zeiten in menschenarme Landstriche ohne Supermärkte kommt, um die dort lebenden Menschen zu versorgen.
Konditoreien und Patisserien gibt es zwar in den Städten, Brot oder Btötchen verkaufen diese jedoch selten - eher Torten und Kuchen, aber auch Salziges, wie die estnischen Pirukas, die es ähnlich auch in Russland (Pirogi), Polen (Piroggen) oder Finland (Pirakkas) gibt. Pirukas sind mit z.B. Kohl, Fleisch oder Karotten befüllte Teigtaschen. Dafür verkaufen Supermärkte auch im Schnitt öfter frisches Brot und selbst gemachte Teigwaren.

Doch zurück zu meinem Hauptthema. Was möchte ich nun mit 0.5 Prozent ausdrücken?
Dazu später mehr. Nun ersteinmal ein paar Neuigkeiten und ein Kurzbericht über das Wochenende in Tallinn:



 Noch eine Woche dauert es bis zum ersten Maarja Küla Benefizkonzert. Jedes Jahr gibt es zwei Konzerte: eines in Tartu und eines in Tallinn. Nächsten Montag ist ersteinmal das Vanemuise Theater in Tartu Schauplatz des Programmes bekannter estnischer Sänger, eine Woche später, am 4. November, dann das russische Kulturzentrum in Tallinn.
An alle Freiwilligen in Estland: Karten sichern!


 Ich habe mich mit Ingrid, meiner Sprachlehrerin unterhalten und sie hat mir Mut zugesprochen vor meinem Verlassen Estlands einen Sprachtest abzulegen. B1 würde ich sicher schaffen, für B2 müsste ich noch ein wenig büffeln. Je nachdem, was ich mir zutraue, muss ich nun überlegen, welchen Test ich ablege. B1 würde (in der Theorie) ausreichen um eingebürgert zu werden und B2 um einen estnischen Wissenschaftsgrad zu studieren. Momentan habe ich zwar nichts von beiden vor, aber zumindest den Sprachtest würde ich - und sei es um meinetwillen - sehr gerne ablegen.


 Um von Sprachen zu reden: Ich habe mein (erstes GROSSES) Sprachziel geschafft, das ich mir vor dem Jahr gesetzt habe. Vor meiner Ausreise habe ich auf Youtube estnische Lieder durchgeklickt und die estnische Version von "Hakuna Matata" aus dem "König der Löwen" gefunden. Seitdem war es mein Ziel, diesen Film auf estnisch zu schauen, was ich nun getan habe. Zwar habe ich noch nicht jedes Wort verstanden, dennoch habe ich schätzungsweise 80%-90% der Dialoge verstanden.


 Der Herbst rollt ein in Maarja Küla. Die Blätter sind schon von den Bäumen gefallen und wir haben jetzt beinahe jeden Morgen Frost auf dem Boden. Die letzten Äpfel werden zu Apfelmus eingekocht, die Blätter werden aufgerächt und der Wald legt sich in rot und gelb.
Sooo schöön :)
Zeitgleich findet sich auf allen Märkten, in allen Supermärkten und auf allen Speisekarten ein ähnliches Herbstmenü: Kartoffeln, rote Beete, Karotten, Kohl, Äpfel, Getreide
O.K.
Fairerwaise muss man sagen, dass diese Zutaten auch schon so die hauptsächlichen Bestandteile der normalen estnischen Küche sind, aber nun eben noch ein wenig mehr ;-)


 Wiedereinmal war ich in Tallinn, da Mirjam noch gar nicht die Freuden der Hauptstadt erkunden durfte. Doch auch diesmal gab es wieder neue Akzente, beispielsweise den Blick vom Turm der Oleviste-Kirche, dem ehemalig höchsten Gebäude der Welt (ca. um 1250).


Ebenso hoch hinaus ging es im Viru Hotel, dem ersten Hochhaus Estlands und dem einzigen ausländischen Hotel zu Sowjetzeiten, denn die Erbauer waren Finnen. Zu Sowjetzeiten befand sich unter dem Dach ein verstecktes Lager des KGB, des sowjetischen Geheimdienstes, der das gesamte Hotel ausspähte. Heute kann man mehrmals am Tag in einer Tour den Turm besteigen und unter dem Dach nicht nur den Ausblick über Zallinn genießen, sondern auch durch die Originalräume schreiten. Zu sehen gibt es originales Material, gute Ausblicke und gleichzeitig darf man Geschichten und Anekdoten lauschen - beispielsweise über die Anschaffung des ersten Faxgerätes in 1989 (!), über die Verwendung von Kuchen und Kabarettkarten als hotelinterne Währung und über die Ausspähung von Personal und Gästen.


 Wenn auch in veränderter Form sind überall wieder Originalbeschriftungen angebracht worden, die es in diesem Geheimlager tatsächlich gab. Am Lächerlichsten erscheint der Verheimlichungsversuch des Heiligtums - des Funkraumes. Dort prangt an der Tür zur Abschreckung der Satz "Siin ei ole midagi!" - "Hier gibt es nichts zu sehen!". Sowjetagenten hatten ausgefeilte Methoden.


Am Samstagabend besuchte ich mit Mirjam die "Peter- und-Paul-Kathedrale", wobei ich das Wort Kathedrale immernoch übertreibend finde. Dort besuchten wir die englischsprachige römisch-katholische Messe (es gibt auch noch estnische, russische, lateinische und polnische). Es war keine besonders spektakuläre Messe, aber dennoch schön - war es doch meine erste katholische Messe in Estland. Leider konnte man den italienischen Priester wegen des Widerhalls kaum verstehen und ich vermisste die Begleitung einer Orgel oder wenigstens von Gesang schmerzhaft sehr.
Warum ich das alles sage? Um wieder auf meine 0.5 Prozent zu kommen:
In Estland gibt es keine hohe Kirchgängerrate. Mit 15 % bilden die Lutheraner die größte Religionsgemeinschaft, gefolgt von 8% russisch orthodoxen. Katholiken bringen es in Estland auf die besagten 0,5 Prozent - das entspricht 5000 Mitgliedern und 6 Kirchen. Estland besitzt daher im Strengen Sinne nicht einmal eine eigene Überdiözese, sondern ist ein Untergebit des Erzbistums Finnlands. In der Geschichte gehörte das Bistum Estlands zum Erzbistum Riga.
Die Kirchenentfernung der Esten hat viele Gründe. Estland war nie ein klassisches Land der Missionierung gewesen. Die ersten deutschen Kreuzritter, die Polen und die Orden brachten den Katholizismus nach Estland, die Schweden und die späteren Deutschbalten den Lutheranismus und schließlich die russischen Zaren das orthodoxe Christentum. Die verschiedenen Minderheiten wie die Seto und die Zwiebelrussen zeigen eine relativ hohe Religionszugehörigkeit - zur orthodoxen Kirche.
Die Peter-und-Paul-Kirche in Tallinn,
die ich am Samstag mit Mirjam zur
englischsprachigen Messe besucht habe.
Verbreitet waren in Estland auch verschiedene heidnische Glaubensrichtungen und diverse Spiritualismen. Später verringerte sich die Zahl der Kirchengänger durch die Sowjetpolitik noch mehr. Heute zählt Estland zu den Ländern mit der wenigsten Kirchenzugehörigkeit, wobei die Rate der Kirchgänger in allen drei "großen" Konfessionen wächst.
Doch gerade in diesem Land muss man Kirche von Religion und wiederum von Spiritualität trennen. Kaum ein Este gehört eine Kirch an, aber noch weniger werden sagen, dass sie nicht spirituell oder gläubig sind. Aufgrund vieler geschichtlicher und sozialer Faktoren lehnen sie jedoch einen Platz in der Kirche mitsamt ihren Dogmen ab. Spirituell sind sie jedoch schon - und das in allen Ausrichtungen. Esten fühlen etwas - ein etwas, dass sie nicht beschreiben können. Diese Ausrichtung bezieht sich sowohl auf ethnische Esten, als auch ethnische Russen in Estland. Sie glauben an den Umgang mit der Natur, an moralische Grundwerte, eine tiefe Verbindung und einen Sinn im Leben. Wo diese Ausrichtungen wieder liegen mögen, das unterscheidet sich weitgehend.
In Estland herrscht zudem ein recht verbreiteter Aberglaube, der so gar nicht zu den modernen Strukturen einer nach vorne gerichteten Gesellschaft passen will.
Zwei Beispiele, die ich selbst von Esten im Dorf gehört habe:
  1. Pflückt man Kräuter, so darf sich der eigene Schatten nicht über der Pflanze liegen, die man schneidet. Tut er dies doch, so legt sich die eigene Krankheit auf die Pflanze und überträgt sie an alle, die von der Pflanze zu sich nehmen.
  2. Taschen darf man nicht zwischen den Beinen abstellen - z.B. im Geschäft, im Wartezimmer oder im Auto. Das bringt Unglück.
Weitere Beispiele, von denen ich im Internet gelesen habe, sind "Pfeift man in seinem eigenen Haus, wird es kurz darauf abbrennen." und "Wer ein Hemd verkehrt herum anzieht, wird kurz darauf verprügelt.".
Auch gibt es im estnischen Fernsehen auffällig viele Serien und Dokumentationen aus Ländern wie Russland oder der Ukraine, die sich mit Wahrsagerei und Phänomenen beschäftigen.

Das zeigt:
Die Esten sind keine Kirchgänger, aber sie wollen auch nicht Atheisten oder Agnostiker genannt werden.
Die Esten glauben. An etwas.
Nur eben anders als vielleicht anderswo.

Freitag, 18. Oktober 2013

Mu isamaa on minu arm ...

Heute möchte ich noch einmal von meinen letzten Wochen und einigen Stichpunkten erzählen. Dabei hangel ich mich an Bildern den Handlungsfaden entlang.


 Ich hab's wieder getan und war wieder in Tallinn. Diesmal gab es jedoch jede Menge neue Gesichter kennen zu lernen - zum Beispiel Jutta, die ihren Freiwilligendienst jetzt in Tallinn angefangen hat.
Bei einer Feier in einer Freiwilligenwohnung stach deutlich wieder einmal ein Punkt heraus, der Deutsche (und zu Teilen Österreicher) von anderen Freiwilligen unterscheidet. Nicht nur, dass es viel mehr Freiwillige von dort gibt, sondern auch, dass diese viel jünger sind. Freiwillige aus anderen Ländern sind zumeist um die 23 oder sogar bis zu 30 Jahre alt. Deutsche Freiwillige sind beinahe alle gleich: 18 oder 19 Jahre alt und haben soeben die Schule beendet. In Deutschland gilt Freiwilligendienst als "GapYear" - als Lückenjahr. Eigentlich ein Segen.
Wenn ich mit anderen Freiwilligen aus anderen Ländern gesprochen habe, so ging es denenweniger um Lückenjahre, sondern um andere Dinge bishin zum Perspektivenmangel. Es sind Krankenschwestern aus Spanien oder Lehrern aus Italien, die keine Anstellung finden, Akademiker aus Mazedonien oder Bulgarien, die sich vorher im Heimatland als Kellner durchschlagen mussten oder Personen, die aus politischen oder persönlichen Gründen eine Auszeit aus ihrem Leben haben möchten. Das macht mich sehr dankbar für diese Möglichkeit, alles aus freien Stücken und ohne Perspektivlosigkeit erleben zu dürfen und ruft mir wieder ins Gesicht: Viele von uns haben echte Luxusprobleme!


Wir waren in Tallinn auch auf dem Lauluväljak, dem Singplatz von Tallinn. Jedes kleine Dorf in Estland hat einen eigenen überdachten Platz, an dem Chöre singen und Instrumente spielen können und vor dem man der Musik lauschen und den Tänzen zuschauen kann. Während beispielsweise UNSER Singplatz in Maarja Küla eine kleine Holzhütte ist, fasst der Singplatz in Tallinn 30.000 Sänger und der Schauplatz etwa eine halbe Million Menschen. Man sagt, man könne im Park vor und neben dem Singbogen die gesamte estnische Bevölkerung versammeln - 1,4 Millionen Menschen.
Gigantismus für ein so kleines Land.


Alle fünf Jahre versammeln sich die Esten zum großen "Laulupidu" - dem Singfest, bei dem dieser Platz bis auf die letzte Stelle gefüllt ist. Dann werden Volkslieder gesungen, tausende Sänger und Tänzer kommen in ihren regionalen Trachten und singen ihre Lieder. Obwohl Estland so klein ist und so wenige Menschen hier leben, verfügt es über einen der reichsten Schätze von Volksliedern, Volksweisen und von verschiedenen Trachten. Ähnlich wie in Schottland verschiedene Karomuster verschiedenen Klänen angehören, gehören verschiedene Trachtenmuster in Estland verschiedenen Regionen an. Hier ein Beispiel für das Muster der Insel Muhu - meinem Lieblingsmuster :)
Als zweites das Muster von Põlva, quasi das Muster "meiner Region".


Die Tradition der "Laulupeod" (Liederfeste) reicht hin bis ins frühe 19. Jahrhundert, als in Tartu Studentenverbindungen begannen, sich jährlich zu treffen, um Volkslieder zu singen. Diese Singfeste sind Tradition in allen drei baltischen Staaten, jedoch gilt dieser Tradition in Estland der höchste Stellenwert, wo überall das ganze Jahr Sing- und Tanzfeste stattfinden, das größte jedoch, dass Tallinner "Laulupidu" findet nur aller fünf Jahre statt - das nächste Mal 2014.
Das Singen ist für die Esten - gerade in der Sowjetzeit - wichtig geworden, um ihren Volksglauben und ihre Identität auszudrücken und über die Generationen weiterzugeben. Diese Tradition, das Gedankengut in die nächste Generation zu SINGEN, findet nicht nur auf Estnisch statt, sondern auch auf Võru und Seto. Võru ist eine Stadt in Südestland, in deren Region ein eigener Dialekt mit eigenen Wörtern gesprochen wird, von dem sich einige Wissenschaftler nicht einig sind, ob es nun ein Dialekt oder eine eigene Sprache ist. Gleiches gilt für Seto. Seto/Setu oder Setukesen sind die Einwohner Setomaa's, eines kleinen Landstriches an der russischen Grenze. Selbst Esten sagen, sie verstünden die Seto nicht, da sie eine Art "Urestnisch" ohne deutschen, finnischen und mit vermindertem russischen Einfluss sprechen.
Das folgende Lied "Mu isamaa on minu arm" war essenziell für die sogenannte "Singende Revolution" - die unblutige Wiedererlangung der Unabhängigkeit Estlands in den 90er Jahren. Es gilt bis heute als die inoffizielle Nationalhymne, da es im estnischen Volkskongress nur deshalb nicht zur Hymne erklärt wurde, weil es als zu langsam und melancholisch galt.


 

Von meinem - am Jahresanfang ungeplanten - Heimurlaub habe ich bereits einen Eintrag zuvor berichtet. Dennocheinmal ein großes Dankeschön an alle, die ich treffen konnte. Es war ein schöner Urlaub.
Nicht jedoch für einen meiner Bewohner - Kalju (Name geändert) , von dem ich bereits berichtet habe. Er war während der Zeit meiner Abwesenheit krank und soll sich wohl erst wieder erholt haben, als ich wieder da war, berichtete mir meine Hausleiterin nun im Geheimen.
"Mida ma siis teiega teen, kui sa ära lähed?" war ihr Kommentar.
"Was mach ich nur, wenn du weggehst?"




Wir hatten die letzte Woche regelrecht ein "Full House", denn sowohl Alina hatte Besuch von ihrem Freund Moritz, als auch Markus, dessen Schwester und Großmutter gekommen waren.
Moritz, Alina und ich nutzten die Chance schönen Herbstwetters und begaben uns noch einmal auf den Fluss hinaus, um Boot zu fahren. Nachdem wir das Boot von geschätzten 100 Litern Moderwassers befreit hatten, ging es los - und bescherte uns eine super Fahrt bei untergehender Sonne.



Einen Tag später ging es los in die Nähe der russischen Grenze nach Setomaa, einem Gebiet einer eigenen Volksgruppe Estlands. Markus samt Familie, Alina samt Moritz, Mirjam und ich brachen also mit dem Auto auf und so fuhren wir - ich saß am Steuer - zunächst Richtung Värska, wo wir in ein Setomuseum gehen wollten, dass jedoch geschlossen haben sollte. Zunächst hielten wir am Wegesrand jedoch am Meteoritenkrater von Ilumetsa, keinem sonderlich spektakulären Krater, aber immerhin einem großen Loch im Wald, an dem früher heidnische Völker zu ihren Tempelritualen zusammen gekommen sein sollen. Zwar ist Estland das Land mit den meisten Meteoritenkratern pro Flächenmaß, jedoch hatten wir alle schon größere Löcher gesehen. :)
Über Värska, wo wir immerhin einen orthodoxen Friedhof besuchen konnten, die Kirche war nämlich auch geschlossen, verfuhren wir uns ein wenig in der Landschaft, konnten jedoch so immerhin zwei besondere Dinge in Anspruch nehmen:
1. In Russland zu sein - ohne Visum! Eine Straße von Värska führt nach Saatse. Es handelt sich um eine alte, unasphaltierte Straße und die einzige Straße, die nach Saatse führt. Da zwischen Värska und Saatse jedoch ein Zipfel Russland nach Estland hineinragt, fährt man auf dieser Straße durch Russland hindurch. Die Straße ist offiziell estnisches Gebiet durch einen Wald, der jedoch Russland ist. Man findet überall ein paar Zäune und Hinweisschilder, dass man die Straße nicht verlassen darf, da man ja offiziell durch Russland fährt. 



2. Konnten wir auf einer großen Schaukel schaukeln. Denn diese speziellen Schaukeln sind Teil der estnischen Volkskultur. Insbesondere in den langen Sommerabenden und besonders am Abend der Mittsommernacht wird auf den großen hohen Schaukeln zu siebt oder zu zehnt geschaukelt. In Lutepää auf dem Weg hielten wir nun an und bestiegen zu fünft das Ungetüm. Ein Spaß, den man in Estland auf jeden Fall einmal erlebt haben sollte.

http://www.puukuju.ee/catalogue/plog-content/thumbs/m__nguv__ljakud--playgrounds/kiiged--swing-sets/large/142-kiik3-1.jpg 

 Zum Ende des Tages gastierten wir noch Piiusa, wo wir in die Sandsteinhöhlen gingen. Diese wurden im 20 Jahrhundert zum Abbau von Rohstoffen zur Glasherstellung geschaffen und sind inzwischen zur Touristenattraktion erkoren, weil dieser Ort nach der Stilllegung nun auch unter Naturschutz gefallen ist, da in den Höhlen Fledermäuse überwintern. Die Touristenführerin erklärte uns auch, dass in den 90er Jahren Satanisten aus St. Petersburg hierher gekommen waren, um in den Höhlen Teufelsanbetungen zu feiern. Als dies bemerkt wurde, wurde es mit allen Mitteln unterbunden, ihr Altar jedoch steht immernoch in den Höhlen. 


Soweit war es das nun ersteinmal von mir. Wie immer habe ich reichlich Pläne für die nächsten Wochen und es wird bald wieder sehr viel zu erzählen geben.
In diesem Sinne:

Musi, kalli, pai,
Marcel

Sonntag, 13. Oktober 2013

Halleluja Berlin


Berlin - Halleluja Berlin
Alle wollen dahin
Also will ich das auch

                  Rainald Grebe


Knapp 9 Monate bin ich nun in Estland.
Das ist ein Zeitraum, in dem viel passieren kann.

9 Monate reichen aus, um ein Haus zu bauen.
9 Monate reichen aus, um schwanger zu sein.
9 Monate reichen aus, um alles zu verändern.




 


So war es auch ein sehr spannendes Erlebnis, am vergangenen Mittwoch das erste Mal seit 9 Monaten deutschen Boden unter meinen Füßen zu spüren. Seit der letzten Begegnung war ich in Finnland, in Russland, in Estland und in Lettland. Seit der letzten Begegnung habe ich eine neue Sprache gelernt, mich verändert und der Welt um mich herum beim Verändern zugesehen. 

Wer mit mir vor rund einem halben Jahr oder noch vor meiner Abreise gesprochen hat, der wird im Kopf behalten habe, dass ich es kategorisch abgelehnt hatte, in diesem Jahr meinen Heimatboden zu betreten. Nach langem Überlegen hatte ich diese Bedenken vor circa zwei Monaten über Bord geworfen, um in Deutschland die Chance zu nutzen meine Freundin Bettina, meine Freunde Linh und Nico und meine Familie zu sehen.



So wurden es sechs spannende, freudige und durchaus schöne Tage in Berlin und Leipzig. 
Ich habe mit Bettina ein wenig mehr von der Hauptstadt meines Heimatlandes gesehen, Zeit mit meiner Familie verbracht und ein wenig entspannt.

Mein Fazit?

1. Mein Besuch hilft mir, irgendwann tatsächlich heim zu kommen.
Viele Freiwillige fürchten den Heimbesuch, gerade weil viele befürchten, den "Abschiedsmarathon" noch ein zweites Mal durchleben zu müssen. Diese Angst hatte ich zwar nicht, jedoch hatte ich Bedenken in Bezug auf den Heimurlaub, weil ich befürchtete, die Kontinuität meines Dienstes zu verlieren. Dienst ist Dienst und Heimat ist Heimat. Weil ich gerne eine klare Abgrenzung zwischen "MEINER Heimat" und "MEINEM Jahr" haben wollte, stand ich einer vorzeitigen Rückkehr nach Deutschland eher skeptisch gegenüber. 

Zwar war es tatsächlich merkwürdig, all die alten Plätze wiederzusehen und in ein doch so anderes Leben wieder hineinzuschauen, jedoch überwiegt momentan doch eher die Euphorie auf die letzten Monate hier oben im Norden und die Zuversicht auf das, was in Deutschland auf mich wartet. Viel hat sich schon verändert in Deutschland und sicherlich wird noch einiges dazu kommen, doch ich bin der Meinung, dass dieser Urlaub mir schon geholfen hat, meinen "Wiederankommens-Schock" zu überwinden.
Fragt man EVS-Freiwillige nach ihrem Dienst, so werden die meisten sagen, dass das Wiederankommen in Deutschland einen größeren Kulturschock mit sich gezogen hat, als die Abreise.
Diesem Schock konnte ich jetzt ein wenig entgegenwirken, denn nun konnte ich meine Heimat und mein altes Leben einmal ganz unbefangen betrachten - schließlich bin ich ja hinterher wieder heimgekehrt. Das hat mir Gründe ins Gedächtnis gerufen, mich auf meine Wiederankunft zu freuen und schon ein wenig meine Angst vor der Abreise gelindert.

2. Ich hab das Großstadtleben verlernt

Schon am Frankfurter Flughafen schockte mich die Monumentalität in Deutschland. Der FRAPORT war mindestens genauso groß wie alle Flughäfen, auf denen ich bisher abgeflogen oder gelandet bin, ZUSAMMEN. Kaum entstieg ich dann in Berlin aus dem zweiten Flugzeug, musste ich knapp 30 Minuten für mein Busticket anstehen - in Estland hätten mir zwei Minuten gereicht. Überall lärmten Autos, Busse bliesen ihre Abgase in die Luft, Menschen drängten sich mit Koffern und Rucksäcken durch große Gruppen und die Flughafenansagen plärrten durch den Einheitsbrei an Gesprächen und Maschinengeratter. 

Im Stadtzentrum von Berlin angekommen, begann ich meinen kleinen Wald zu vermissen.
Alles war so groß, alles war so laut und irgendwie roch es auch alles ein wenig nach Müll.
So viele Menschen bestiegen so viele Autos und produzierten dabei viel zu viel Lärm.
Mit meinem kleinen Wald in einem Land, das nicht einmal halb so viele Einwohner hat wie Berlin, bin ich sehr verwöhnt. Saubere Luft, keine überfüllten Straßen und weniger brummende Autos.
Oft scherzen wir bereits bei einem Gegenverkehr von drei Autos über "stauähnliche Zustände" auf estnischen Straßen.
Deutschland darf mich gerne wieder aufnehmen, doch den Lärm und die Größe habe ich nicht vermisst.

3. Es gibt keine deutsche "nationale Einheit", von der immer alle reden sie würde zerstört
Bettina und ich besuchten in Berlin am Tag der deutschen Einheit das vom Coca-Cola-Konzern veranstaltete Fest vor dem Brandenburger Tor - nennen wir es einmal "Volksfest", denn mit dem Thema hatte das alles recht wenig zu tun. Gerade einmal wehte uns die deutsche Flagge entgegen - am Stand des Bundestages, der irgendwo zwischen Würstchenbude, Bowle-Bar und Riesenrad geparkt wurde.
Ich bin der Meinung, in Estland an jedem noch so kleinen Gedenktag mehr Flaggen zu sehen als am größten Nationalfeiertag Deutschlands. Am Flaggentag, am Tag der ersten Unabhängigkeit, am Tag der wiedererlangten Unabhängigkeit, ja sogar am Tag der Muttersprache, baumeln an jedem Haus Flaggen. Kein Haus wird hier ohne Flaggenständer gebaut. In Estland gibt es kaum ein Volkslied, dessen Text nicht jeder kennen würde. Und in Deutschland?
Außer bei der WM/EM keine Spur!


Mir fällt es schwer, der NPD zu glauben, der Islam, die Türken, die Vietnamesen oder sonst eine Volksgruppe würden die deutsche Identität stehlen, denn diese Identität sehe ich irgendwie nirgends. Schuld daran sind wohl die Jahre des Kaiserreiches und des Hitler-Regimes, in der jede Vielfalt und Identität im Versuch, etwas Künstliches zu erschaffen, niedergemetzelt wurde. Merkwürdig - im Versuch etwas Großes zu schaffen, wurde etwas Großes zerstört.
Die Jahre der Teilung haben dann der Identität den Garaus gemacht.
Deutsche Identität? Vielleicht erleben das MEINE Urenkel noch. 

Ich möchte hier niemanden oder irgendetwas anklagen. Ich lebe gern in Deutschland und bin gerne Deutscher. Auch identifiziere ich mich mit Sachsen, Leipzig und meiner Sprache und Vergangenheit. Aber ich bin der Meinung, es ist falsch zu sagen, dass Einwanderer die deutsche Kulturidentität schädigen, denn so etwas gibt es in Deutschland (noch) nicht. 

Alles in Allem bin ich sehr froh, diesen vorerst ungeplanten Urlaub getätigt zu haben. Ungeplanter Weise hat er mir sogar geholfen, die Angst vor dem Abschied aus Estland zu verarbeiten.
Jetzt blicke ich voller Zuversicht auf meine letzten Monate in Estland.
Dies ist ein guter Punkt, noch einmal öffentlich das klarzustellen, was ich mir seit einiger Zeit überlegt und nun beschlossen habe. Sollte die Möglichkeit bestehen, werde ich zwei Monate länger als geplant in Estland bleiben. Grund dafür ist auf der einen Seite, dass ich der Meinung bin, dass ich mit meiner Arbeit hier mental noch nicht abschließen kann. Auf der anderen Seite steht pragmatisch mein Mangel an Perspektiven innerhalb der 10 Monate, die mir zwischen Projektende und Unistart bleiben würden. 




So werde ich gegen Bezahlung samt Praktikumsvertrag im Dorf bleiben.
Anstatt zu Projektende Mitte Januar abzufliegen, werde ich so höchstwahrscheinlich Mitte März heimkehren.

Head aega,
Marcel