Mittwoch, 31. Juli 2013

Maailm muutub ... / Die Welt verändert sich...

Erneut sind einige Wochen ins Land gegangen und es ist viel geschehen.



1. Hitchhiking-Trip nach Narva, Kunda, Gästetag
Zuersteinmal sollte ich damit anfangen, dass ich mich vor drei Wochenenden an einem Donnerstagabend mit Anna nach der Arbeit nach Tartu aufmachte, wo wir mit dem Linienbus an den Stadtrand fuhren. Von dort aus trampten wir in einer langen Tour den Peipsisee hinauf. Zuerst schleppend ein paar Kilometer nördlich, wo wir für 3 Euro (unser einziges Bargeld) den typischen Peipsi-Räucherfisch kauften.

Der Fairness halber muss man sagen, dass die Autos
nur bei Anna angehalten hatten :)
"Was ist denn ihr günstigster Fisch?" - "Wieviel bekommt man denn für drei Euro?"

Gestärkt ging es schleppend weiter und wir wurden ein paar mehr Kilometer aufwärts mitgenommen, von wo wir jedoch knapp zweieinhalb Stunden nordwärts wanderten, da einfach kein Auto anhalten wollte. Innerlich hatte ich mich schon damit abgefunden, dass wir wohl irgendwo im Feld übernachten müssten, doch dann bestiegen wir doch noch ein Auto, dass uns gleich mit bis ans Nordufer mitnahm, von wo wir relativ schnell mithilfe eines weißrussischen Lasters bis direkt an unser Ziel kamen: Narva, denn dort war Anna noch nicht gewesen.
Anna saß auf dem Fahrerbett hinter den Kabinen, ich auf dem Beifahrersitz. So brausten wir in Richtung Sonnenuntergang und schließlich nach Narva, wo wir von einer Tankstelle direkt mit dem Taxi zu Katja, meiner bulgarischen Mitfreiwilligen, fuhren. Einen Tag später durchstriffen wir Narva, eine andere Welt, wann man Estland gewohnt ist. So kommt man bei ca. 90% russischer Bevölkerung mit der Landessprache nicht weit und viele handgeschriebene Tafeln bei zum Beispiel Obstständen sind ebenso auf russisch geschrieben. So bestiegen wir auch die Hermannsfestung und hatten sowohl im Schloss als auch auf der hohen Wehranlage grandiose Ausblicke.
Von dort aus sahen wir auch einen bestimmten LuxExpress-Bus auf der russischen Seite der Grenze, der uns nur etwa eine Stunde später Bettina beschert hat. Gemeinsam mit ihr und Katja verbrachten wir noch weitere Zeit in Narva, mussten jedoch am nächsten Morgen schon früh aufstehen, da wir mit einem Bus um 7 Uhr Richtung Kunda aufbrochen. Dort wollte Anna das estnische Kiiking ausprobieren - eine Sportart, in der es gilt, mit einer überdimensionalen Schaukel Überschläge zu machen. Allerdings begann dieses Kiiking erst dann, als wir gerade aufbrechen mussten. Frühes Aufstehen, lange Anreise mit Gepäck und Eintrittsgeld für die Katz. Aber was macht man nicht alles. Immerhin hatten wir eine nette kurze Zeit am Strand.

Am Abend ging es dann zurück nach Maarja Küla, wo der Gästetag stattfand - eine Veranstaltung für mehrere Orte aus der umgebenden Ortschaft, beispielsweise für Maarja Küla und das nahegelegene Kiidjärve. Dazu kamen noch Vertreter aus Valgemetsa und Lootvina. Gemeinsam gab es Musik, Tanz und Spiele - darunter ein Volleyballturnier, in dem auch ich mitgespielt habe.



2. Arbeitswochen im Haus
Die nächsten zwei Wochen begleitete mich Bettina auf meine Arbeit, die ich ihr stolz zeigen konnte. So machten wir gemeinsam für das Haus essen, gingen zur Malstunde, arbeiteten im Garten oder gingen einfach nur mit den Bewohnern spazieren. Mit meinem eigenen Projekt, eine Bank für die Bushaltestelle zu bauen, kamen wir auch zügig voran. Bald ist Richtfest.
Ein weiteres Projekt wurde leider schon vernichtet. Des Nachts hat jemand unverfroren meine Bushaltestellenmülleimer geklaut. Äußerst dreist und ärgerlich, doch den Esten nach zumindest sogar Wert, in die Lokalzeitung zu kommen. So durfte ich zustimmen und ein Foto einsenden, dass die Geschichte vom gestohlenen Eimer in die Gemeindezeitung gelangt.



Es waren zwei sehr schöne Arbeitswochen und ich finde es bewundernswert, wie gut sich Bettina in die Gemeinschaft eingelebt hat. Schon bald spielte sie mit Bewohnern und fand sich zurecht, ohne überhaupt Estnisch zu können. Dazu hat sie in den zwei Wochen viele estnische Wörter gelernt, sowie ein paar Sätzchen. Darunter ganz bedeutend: "Mul on puuk!" - "Ich habe eine Zecke!" :)
Wir wagten uns in diesen Wochen auch in den Wald - nicht nur zum Pilz-/Beerensammeln sondern auch zum Wandern. :)

3. Zeltunglück am Peipsi-See

Bettinas zweites Wochenende in Estland wollten wir gekonnt nutzen, indem wir an den Peipus-See an der Grenze zu Russland reisen wollten, um dort zu zelten. Es war ein sehr merkwürdiger Urlaub, doch er brachte uns viel zu erzählen.
Zunächst brachen wir Donnerstagabend mit dem Abendbus nach Tartu auf, wo wir nach einem Stop im Supermarkt bei Regen an den Stadtrand fahren wollten, um zu treffen. Nachdem wir ersteinmal einen Kreis durch die Stadt fuhren, hatten wir es dann irgendwann endlich geschafft und waren an der Stadtgrenze kurz vor 23 Uhr angekommen. Von dort aus setzen wir uns in Bewegung. Anhand des Automangels jedoch gestaltete sich das Trampen als schwierig. Erst kurz vor Mitternacht - und circa 5 Kilometer vom Ausgangspunkt - nahm uns ein Auto auf, dass uns gleich bis Mustvee an den Peipsisee mitnahm. Auf der Vorderbank saß ein russischsprachiges Päärchen, dass uns so einige merkwürdige Geschichte erzählte. Sie unterhielten sich mit mir auf Estnisch und Bettina auf Russisch - wie praktisch. Als wir gegen halb zwei in Mustvee aufschlugen, ließen sie uns an einem Zeltplatz direkt am See heraus, wo wir in der Dunkelheit vor Schreck feststellen mussten, dass unser Zelt nicht komplett ausgestattet war. Das Zelt war enthalten. Ebenso die Schutzplane und die Heringe und Schnüre. Auf die Stangen hatte man jedoch beim Zusammenpacken verzichtet.
Unser Wrack am Morgen danach
Damit hatten wir eine große Tasche, aber nichts Stabilisierendes, was daraus ein Zelt machen würde. Anhand
des Mangels an Möglichkeiten zogen wir mit einer Schnur das Zelt mit der Spitze an einem Baum hoch, so dass es einigermaßen eine Form hatte. Dadurch konnte die Regenplane jedoch nur notdürftig herumgesetzt werden, was bis sechs Uhr morgens kein Problem hätte sein sollen, als dann plötzlich der Regen einsetzte, der aus unserem Zelt einen Indoorpool machte, denn mein Handy nicht überlebt hat. Als am nächsten Morgen alles trockengesetzt wurde setzten wir uns in Bewegung Richtung Süden. So trafen wir ersteinmal noch in Mustvee den "Kalev-Helden-Stein", einen großen Stein im Nichts mit angeblich heroischer Bedeutung. Weiter ging es noch mit dem Bus nach Süden zurück Richtung Kallaste, wo sich uns schöne Sandsteinklippen, ein niedlicher kleiner Strand und süße Fischerhäuser boten.



Weiter wollten wir dann zu den Dörfern der Altgläubigen - einer russischen Volksgruppe, die sich vor circa zweihundert Jahren dort niedergelassen hat, um der religiösen Verfolgung in Russland zu entgehen. Sie leben auf ihre altertümliche Art in kleinen Hütten und bauen lange Reihen von Gemüse und Zwiebeln an, was ihnen in Estland ihren Spottnamen "Zwiebelrussen" einbringt. Es handelt sich um ein sehr religiöses Volk und so sind auch in kleinen Orten mindestens zwei Kirchen samt Friedhöfen zu finden.
Die Hauptstraße von Nina
Wir setzten unsere Tramping-Fahrt über Alatskivi bis nach Nina weiter - ein ZU kleines Dorf am See. Zunächst mussten wir uns von einem ansässigen Russen, der jedoch mit mir auf Estnisch sprach, in eine Pension schleppen lassen - anscheinend wollte man uns nicht zelten lassen. Wir lehnten ab, durften uns jedoch noch seine Kriegswunden ansehen, die er sich beim Einmarsch der Sojwetunion in Afghanistan in den 70er Jahren verdient hatte. Er versicherte uns auch noch, dass Nina der schönste Ort am Peipus sei - wenn es nach ihm ginge. Wir mochten zwar den Anblick der kleinen Häuschen, wo alte russische Großmütter ihre Zwiebeln gossen oder wo Menschen fangfrischen Fisch umfüllten, jedoch brachten wir es lange nicht fertig, auf die nächstgelegene Straße Richtung Kolkja zu gelangen - den nächstsüdlicheren Ort.
Wir landeten in allen Ecken von Nina in Privatgrundstücken. Als wir es dann doch fertig brachten, streiften wir zwischen Feldern über eine elendig lange Feldstraße. Der Anblick erinnerte an Bilder aus der Ukraine oder Rumänien - kleine kaputte Häuser an einer nicht asphaltierten Straße mit älteren Menschen mit Hunden und langen Gemüsebeeten. Jedenfalls hatte ich so etwas noch nicht in Estland gesehen. So wanderten wir und wanderten - wateten durch kratzendes Gras und wurden von Bremsen zerstochen. Nach langen Kilometern trafen wir mit einer anderen Straße zusammen und hatten endlich wieder Asphalt. Als wir das Zelt, um das Gepäck zu schützen, bei einem Regen an einem See aufstellten, lief jenes wieder voll. So entschieden wir uns aufgrund einer unzumutbaren Situation - alles nass, keine Aussicht auf Besserung, nächste Ortschaft in weiter Entfernung - umzukehren und noch an diesem Abend nach Tartu zurück zu trampen, was uns mit zwei Autos gelang - wobei mir wieder tausendmal verischert wurde wie gut ich doch schon Estnisch spräche - mit einem kleinen Wink mit dem Zaunspfahl zu all den "Russen"; die schon seit Ewigkeiten hier wohnen und keinen Brocken Estnisch sprechen. Unsere zweite Autofahrerin war auch sehr aufgeregt, denn wir waren ihre ersten Tramper überhaupt - und so plauschten wir über Sprachen und die Restauration älterer Häuser (was sie beruflich macht).



Wir schafften es so endlich tatsächlich noch bis zehn nach Tartu und konnten so mit dem Bus ins Dorf, wo wir ersteinmal eine heiße Dusche und ein weiches, trockenes Bett genossen.
Am nächsten Tag machten wir dann lieber mit Elisabeth einen Fahrradausflug nach Põlva, auf dem ich mir derbe Poschmerzen zuzog. Aber was soll's!? :)
Alles in allem war es eine sehr angenehme Erfahrung, wenn auch so einiges schief lief. Ich bin froh, dass ich diesen Ausflug mit Bettina gemacht habe, auch wenn er schon in 24 Stunden wieder vorbei war. Dafür haben wir sooo viele Geschichten zu erzählen und soo viele neuer Erfahrungen gemacht. Danke dabei einmal an Bettina an dieser Stelle, die mir die ganze Zeit so gut zugeredet hat und dann Mut machte, wenn meine Stimmung am Boden war.
Am nächsten Abend gab es dann ein kleines Saunafestchen mit Gianluca, einem italienischen Freund, der in Tallinn arbeitet, sowie mit Elisabeth und Anna. So gab es Sauna, vieles gutes Essen mit selbstgesammelten Waldbeeren und Pilzen aus dem Wald, sowie frischen Dingen aus dem Garten. Außerdem gab es auch noch einen Sprung ins kühle Nass - entweder ins Fass oder in den Teich. Sehr schön. Ein super Ende für ein chaotisches Wochenende.

4. Viljandi Folk
Eine türkische Gruppe auf dem Festival
Am darauffolgenden Donnerstagen ging es früh los raus aus dem Dorf. So fuhren wir - Bettina, Anna, Maria und ihr Freund Hannes und ich - nach Tartu, um dort einzukaufen, und im Anschluss nach Viljandi, wo wir das Viljandi Folk Festival besuchten. Dorthin kamen dann auch später noch Elisabeth, Heli, Huko und Lisa - eine Freiwillige aus Räpina in Estland. Wir verbrachten ein paar schöne Festivaltage mit Zelten, Schwimmen und diversen Konzertbesuchen. Von estnischer Folklore über indische Punjabi-Musik und alaskanische Gesänge bis zu Folkrock war alles dabei. Bis abends hinein gingen die Konzerte. Abgesehen von einem Diebstahl gab es auch wenig negative Punkte zu berichten. Mehr Bilder vom Festival gibt es auf der offiziellen Seite HIER.

Ein Video - zwar nicht vom Festival, aber von einer Band vom Festival - gibt es hier jetzt. Dieses Lied hat mich sehr begeistert - das ganze Konzert war grandios. Bei diesem Lied waren auf der Bühne auf dem Festival auch noch ein Slagline-Tänzer und circa 10 Folkloretänzer in Trachten. Die Menge hat gejohlt vor Freude.





Das Festival findet auf einem Gelände mitten in der Altstadt statt. Die Bühnen sind so beispielsweise in einer Kirche, im Museuminnenhof und zwischen alten Klosterruinen. Einen Einblick über die schöne Aussicht und die grandiosen Konzerte gibt es auf der genannten Seite mit den Fotos.
Einen Festivaltag ließen Huko, Bettina, Anna und ich jedoch sausen, denn wir setzten uns ins Auto und machten uns ab über die Grenze Richtung Riga, um Alina vom Flughafen abzuholen. Alina ist eine unserer neuen Freiwilligen, die ihren Dienst jetzt beginnt. Sie kommt aus Freiburg und wird ihren Dienst jetzt im Sõbra Maja und im Eesti Maja verbringen. Morgen kommt dann auch Tamar an - unsere neue Freiwillige aus Georgien, die dann das Eesti und das Saksa Maja bereichern wird.



Mit der frisch angekommenen Alina (rechts)
am Flughafen in Lettland
Auf dem Weg zum Flughafen fuhr zunächst Anna Hukos Auto, später in Lettland auch ich - und wär in Lettland einmal Auto fahren wird, für den wird eben dies ein Adrenalinrausch. In Lettland fahren Autos prinzipiell am rechten Fahrbahnrand, beinahe auf dem Seitenstreifen, damit in der Mitte genügend Platz für Überholer aus beiden Richtungen ist. So existieren quasi drei Spuren anstatt zwei. Huko instruierte meine Überholmanöver und mir schoss Adrenalin in die Blutbahn. Eine sehr spannende Erfahrung. In Riga selbst fuhr dann Huko den Wagen zum Flughagen, wo wir Alina nach einer Verspätung ihres Fliegers begrüßten. Sie bekam gleich estnische Köstlichkeiten in die Hand gedrückt und so machten wir uns wieder auf den Weg durch Nebelschwaden zum Viljandi Folk, wo wir gegen zwei Uhr morgens ankamen. Dies war sehr spannend, da es für mich die erste Neuankunft eines Freiwilligen war, so war ich ja das "Küken" im Dorf.

5. Annas Abschied
Heute morgen fiel der Regen in dicken Tropfen auf das Dorf - traditionell, wie es hier heißt, denn Anna musste das Dorf verlassen und immer dann, wenn jemand geht, regnet es wohl meißt.
Anna hatte ihre letzten Tage mit einer Dorfabschiedsfeier mit Bewohnern verbracht, wo ihr Abschiedsgeschenke übergeben und Tränen vergossen wurden. Auch die Saunafeier gestern Abend hatte Abschiedscharakter, auch wenn zum ersten Mal seit der Reparatur die "Tünnisaun" (Fasssauna) angeheizt wurde. Diese darf man sich wie eine übergröße Outdoor-Badewanne vorstellen. Heute morgen ging es dann früh aus den Federn zu einem letzten gemeinsamen Frühstück und als kleine Gruppe brachten wir Anna zur Haltestelle, als der Regen einsetzte. Da war sie auch schon weg - auf ihren Weg nach Tallinn und dann zurück nach Deutschland. Ein merkwürdiges Gefühl. Obwohl mir noch Zeit bleibt, so fühlt es sich dennoch nach Ende an, denn wir haben einfach eine lange, schöne Zeit in Maarja Küla gehabt. So ist das im Leben: einer kommt, einer geht. Alles ändert sich.

An dieser Stelle ein großes DANKE an L. Anna S. M. Baumann für das letzte halbe Jahr in Maarja Küla, jeden Mist, den wir mit Elisabeth gemacht haben, jedes Mal Kochen in der Hausküche, jeden Faulenznachmittag, jeden Sprung in den Fluss, jeden Lacher, sowie alles erdenkliche Glück und den größten Erfolg für deine weitere Zukunft in Deutschland. Man sieht sich wieder. In Estland und in Deutschland. Verlass dich drauf :)



Head aega,
Marcel

P.S. Wir hatten amerikanische Soldaten im Dorf, die hier viel repariert und gebaut haben im Rahmen eines Kulturprogramms der US-Army. Bilder davon gibt es irgendwann beim nächsten Eintrag.

Montag, 8. Juli 2013

"Valged Ööd" und "Külapuhkus"

Wiedereinmal ist Zeit ins Land gestrichen und mit großen Schritten nähere ich meinem "Bergfest", also meiner Halbzeit. Genau eine Woche bleibt mir noch, dann sind schon sechs Monate ins (estnische) Land gegangen.
Doch ersteinmal gibt es von zwei wichtigen Dingen zu berichten:

1. Jaanipäev, der Mittsommerwende (als die Sonne nie ganz weg war)
2. Külapuhkus, der Dorfurlaub mit fast allen Bewohnern

Zunächst habe ich also den Jaanipäev verbracht, den Johannestag - jener Tag an dem die überstandene Mittsommernacht gefeiert wird. Umrahmt wird die kürzeste Nacht/ bzw. der längste Tag des Jahres von den ohnehin kurzen "weißen Nächten".

Ungefähr zum Scheitelpunkt der längsten Nacht des Jahres





Wikipedia sagt dazu:
Weiße Nächte sind Nächte, in denen die Sonne nur für kurze Zeit untergeht, so dass es auch nachts dämmrig oder hell ist. Weiße Nächte kommen an allen Orten vor, die etwa zwischen 57° nördlicher Breite und dem Nordpol beziehungsweise 57° südlicher Breite und dem Südpol liegen.
Das bedeutet als im Kurztext, dass die Sonne nur einmal kurz hinter den Horizont läuft, dort "abschlägt" und wieder zurückkehrt. Praktisch heißt das für mich, dass ich lange die Sonne genießen kann, was meinen Tagesrythmus leicht durcheinander bringt. Oft ist es mir und anderen schon passiert, dass wir um neun Uhr abends verdutzt auf die Uhr schauen und sagen "Ich dachte, wir hätten es erst um sechs."
Johannesfeuer bei der Dorffeier
Praktisch sind weiße Nächte allemal. Wenn man gegen 23 Uhr vom Bus durch den Wald nach Maarja Küla läuft, ist es nicht ganz dunkel und man kann auch noch gegen 19 Uhr abends Wäsche draußen aufhängen, die man dann gegen 22 Uhr (immernoch bei Licht) wieder abnehmen kann.
Die Nacht vom 23. auf den 24. Juni ist die Nacht des Jaanipäevs, an dem in ganz Estland Feuer entzündet werden. Es wird gesungen, getanzt und viel gegessen und getrunken. Zahlreiche Traditionen und Mythen ranken sich um diese Nacht.

Hier ein Auszug:
  1. Geht eine junge Frau in dieser Nacht in den Wald, um neun verschiedene Blumen zu sammeln, dann muss sie diese unter ihr Kopfkissen legen. Der erste Mann, den sie darauf in ihrem Traum sieht, ist ihre wahre Liebe. Darüber darf sie aber mit niemandem reden.
  2. Wer über ein entzündetes Johannesfeuer (Jaanituli) springt, erhält Glück für das nächste Jahr. Je öfter man springt, desto besser. Die Art des Sprunges gibt Auskunft über das nächste Jahr. Fällt man z.B. auf der anderen Seite des Feuers vornüber, so bedeutet dies Unheil. Ein hoher Sprung bringt Erfolg, ein weiter Sprung Gesundheit, usw. 
  3. Auf den Inseln und in Küstennähe werden alte, ausgediente Boote im Johannesfeuer verbrannt. Dies soll mit dem Alten abschließen und Glück für die neue Saison bringen. 
Beliebt ist auch das Kiiking in der Johannesnacht. Kiiking ist ein neuer Sport, der in den neunziger Jahren in Estland erfunden worden ist. Er baut darauf auf, dass in Estland das Schaukeln (estnisch Schaukel = "kiik") Tradition hat. In vielen Dörfern stehen überdimensionale Schaukeln, auf denen man mit mehreren Menschen stehen kann. Beim Kiiking wird man auf eine sehr hohe, steife Schaukel geschnallt und es wird damit ein Überschlag vollbracht. Der Kiiking-Weltrekord liegt bei ca. 8 Metern. Den Wikipediaeintrag gibt es HIER, ein Video HIER.

Wanderung nach Taevaskoja
An die längste Nacht schließt sich der eigentliche Johannestag an, der in vielen Ländern, darunter in Finnland und dem gesamten Baltikum, gefeiert wird. Auch hier wird wieder gegessen, gesungen und getanzt - begleitet vom Johannesfeuer.

In Maarja Küla haben wird aufgrund des Faktes, dass unsere Bewohner an ihre Ruhezeiten gebunden sind, nur den Johannestag selbst (der im Übrigen staatlicher Feiertag ist) zusammen verbracht. Die Flagge wurde gehisst, das Johannesfeuer entzündet und es wurde reichlich gesungen und getanzt, sowie gegessen. Während eine Gruppe Essen vorbereitete, wanderte eine andere nach Taevaskoja. Ich hingegen hab mich ersteinmal hingelegt. :)
Ein sehr schönes Fest.

Die vorherige Nacht hatte ich mit Anna an der Bootsbrücke verbracht. Wir haben dort an der Feuerstelle ein eher spärliches Feuer entzündet und konnten beobachten, wie in der Dämmerung die Sonne ihren Rückzug antrat. Mehrmals bin ich über das Feuer gesprungen - jetzt gibt es Glück für das nächste Jahr.
Tanzspiel in der Großgruppe beim Dorffest

Letzte Woche nun, stand eine große Veranstaltung an, die das ganze Dorf umfasste. Lange geplant, begaben wir uns am Dienstag in den lang ersehnten Dorfurlaub, in dem wir in einer 63 Menschen großen Gruppe in Richtung Tallinn fuhren.
Am Montag wurden letzte Vorkehrungen getroffen:
Es wurden Bewohner auf die drei Busse verteilt (zwei Kleinbusse und ein Reisebus), wir waren ein letztes Mal einkaufen, es wurden Sachen für Bewohner und Arbeiter verpackt, Küchenutensilien wurden verstaut, Zelte und Matratzen geprüft und auch verpackt. Schließlich gab es noch eine letzte Sauna und aufgeregt ging es zu Bett. Der Dienstag begann mit dem großen Entspurt: Alles wurde fertigverstaut. Dann ging es auf in die Busse und ab in den Norden. Zusammen mit zwei Bewohnern, drei Arbeitern und dem Essen für das gesamte Dorf, reiste ich im weißen Bus des Sõbra Maja, denn ich war wieder mit meinem "Schätzeken", meinem Jungen im Rollstuhl, beieinander. Während wir über die schöne estnische Landschaft donnerten, klang Retromusik aus den Lautsprechern. Wir tanzten auf der Mittelreihe und kamen dem Horizont näher.
Blick auf den hinteren Teil des Zeltplatzes
In Türi, etwa in der Mitte Estlands, gab es den ersten Stopp an einem See, wo der erste "Toimkond", also die Gruppe, die für das Essen verantwortlich ist, eine dreiviertel Stunde lang nur Brote schmierte und Getränke in Tassen eingoss - Akkordarbeit pur.
Weiterer Halt war noch in einer Burgruine in Nordestland bis wir dann gegen sechs Uhr abends das "Haraka Kodu", ein Pflegeheim für geistig behinderte Menschen, erreichten. Im Garten schlugen wir die knapp dreißig Zelte auf und im Haus bezogen beispielsweise die Rollstuhlfahrer ihre Zimmer.
Mittwoch brachen wir gegen 10 Uhr auf und zogen nach Tallinn, wo wir zunächst den "Lennusadam" besuchten, Europas bestes Museum 2012. Der "Flugzeughafen", wie er übersetzt heißt, ist ein ehemaliger Hangar am Hafen von Tallinn. Ehemals lagen dort sowjetische Schiffe und Wasserflugzeuge an. Heute kann man dort ein U-Boot der estnischen Flotte (wahrscheinlich das einzige Bestandteil der Flotte) betrachten, sowie diverse Boote, Schlittenboote, ein Wasserflugzeug und diverse andere Exponate.
Ich, Maria (Estin) und Heli (Tschechin)
im Lennusadam
Eigentlich interessiert mich ein solches Klientel ja weniger, aber dieses Museum gefiel mir dann doch sehr. So konnte man beispielsweise auch kostenfrei Fotos mit Kapitänskleidung machen und diese an seine E-Mail-Adresse schicken lassen. Ebenso war es aber auch möglich Flugzeugsimulatoren zu fliegen oder kleine ferngesteuerte Boote zu fahren. Nebenbei gab es aber auch viele interessante Texte und Schilder für die "Älteren". Das Museum hat meine Erwartungen deutlich übertroffen. Nach einem Picknickabstecher in Kadriorg (Katharinenthal), einem parkreichen Teil von Tallinn mit dem Fürstenschloss, zog es uns hoch hoch hinaus - auf den Tallinner Fernsehturm, der zwar zu den olympischen Spielen in den 70er Jahren durch die Sowjetunion gebaut wurde, als Tallinn die Segelwettbewerbe austrug, heute jedoch ein Symbol der estnischen Freiheitsbewegung geworden ist. Vom Turm erwartete uns nicht nur ein spannender Ausblick über Tallinn, den finnischen Meerbusen und das estnische Umland, sondern mit viel Phantasie konnte man auch schon Finnland in ca. 80 km Entfernung erahnen. Im Turm selbst gab es noch eine interessante Ausstellung zu diversen Themen. Beispielsweise konnte man das Umland in einer Nachstellung sehen, wie es vor hunderten Jahren ausgesehen haben muss - oder wie es bei verschiedenen Jahreszeiten aussieht.
Blick vom "Tallinna Teletorn"
Am Abend im Haraka Kodu gab es dann noch eine Disco für die Bewohner, die zusammen mit den Bewohnern der dortigen Einrichtung stattfand. Sehr gelungen.
Nach der abendlichen Runde ging es dann auch für mich ins Bett.
Am Donnerstag ging es dann früh zurück zum Tallinner Hafen, wo wir diesesmal auf ein Schiff stiegen - die "Kajsamoor", ein nach dem altnordischen Windgott benanntes Segelschiff. Nachdem wir unsere drei Rollstuhlfahrer über die Reeling gehieft haben und auch alle anderen Bewohner und Arbeiter ihren Weg auf das Schiff überstanden haben, ging die Fahrt los auf die wellige Ostsee, vonwoaus wir einen schönen Ausblick auf das Tallinner Hafenbecken hatten. Dazu gab es einige Erzählungen darüber, wie solch ein Schiff funktioniert und wie es um die Seefahrt in dieser Gegend bestellt ist.
Blick vom Boot - hinter mir Tallinn
 Als wir wieder Land unter den Füßen hatten ging es wieder auf zum Picknick - diesmal in den Stadtteil Mustamäe in einen Park. Auf dem Weg dorthin gab es einen sehr epischen Moment, denn neben mir auf dem Bussitz mitten in Mustamäe fing Kalju* (der im Übrigen aus Tallinn kommt) an heftig zu "rufen". Auf die Frage, was denn los sei, zeigte er das Gebärdensprachezeichen für "zu Hause". Als wir seine Mutter, die am Abend zu Besuch kam, darauf ansprachen, stimmte sie zu, dass sie in Mustamäe wohnen. Kalju hat also sein Heim wiedererkannt. Ein sehr schöner Moment.
Nach dem Picknick ging es in den Tallinner Zoo, den einzigen Zoo Estlands, der gelinde gesagt überschaubar ist. In einer Führung gingen wir ein wenig durch den Zoo und erhielten zeitgleich Informationen. Auch wenn man dem Zoo seine Sowjetvergangenheit ansieht, erblickt man auch, dass sich viel verändert hat. Ein sehr niedlicher Zoo, der logischerweise nicht mit Zoos in Deutschland wie denen in Berlin, Leipzig oder Hamburg zu vergleichen ist, jedoch trotzdem einen gewissen Charm ausstrahlt.
Freitag ging es für uns ans Meer, wo wir lange Zeit verbrachten. Auch wenn unsere Stelle Strand in Schlamm getränkt war, so war es dennoch sehr schön und auch die Sonne kam sogar einmal heraus. Der Schlamm hörte nach zwei Metern im Meer auf - eine annehmbare Tiefe hatte das Wasser aber erst nach zweihundert Metern. Bis zu hundert Metern im Meer hatte dieses noch Knietiefe. Dort war das Wasser klar und der Sandboden weich. Die Dünen hinter uns waren sandig und dicht mit Küstengras bewachsen. Wir zogen dicht ans Wasser, schwammen, spielten Ball oder Karten und sonnten uns. Tatsächlich - ich bin braun geworden - in Estland! :)
Nachmittag am Kloogirand
Nach einem weiteren Picknick mit Kaffee, Saft, Keksen, Möhren, selbstgemachten Burgern und Äpfeln zogen wir die Küste entlang am nahe gelegenen Paldiski vorbei, wo wir am Nordzipfel einer Küste vor dem Leuchtturm die Klippen bewunderten. Die hohen Wellen schlugen unter uns an den Fels an, während wir oben auf den reichen Blumenwiesen die Möwen über uns hinwegziehen sahen. Der Leuchtturm hinter uns ragte unbetrübt hoch in den Himmel.
Nach einem weiteren Einkauf in Paldiski, einer russisch geprägten Stadt, ging es zurück ins Haraka Kodu, wo wir den Abend bei Gesängen und Tänzen verbrachten.
Am Samstag mussten wir dann leider schon wieder die Segel streichen. Mit dem Packen und Zeltverstauen ging alles los, doch als dann alles in den Bussen verstaut und das Abschiedsfoto geschossen war, bretterten wir los. Im nahegelegenen Pahkla-CampHill-Dorf, in dem ich auch schon einmal war, legten wir einen Besuchszwischenstop ein. Ein wenig später ging es nocheinmal in ein Wanderergasthaus, in dem wir die Mittagspause einlegten.
Beim Warten auf das Essen :)
Am frühen Abend oder späteren Nachmittag (wie man das auch auslegen möchte) erreichten wir Maarja Küla, entpackten die Busse, gingen nocheinmal für das Wochenende einkaufen und dann gab es in meinem Haus ein verrücktes Abendessen: Als Hauptgang: Eis. Dazu Früchte und Kekse. Ein Traum. Der ganze Kram wurde nur in die Ecke gepackt. Entpackt wurde erst einen Tag später. Dieser Tag war noch Urlaub. Himmlisch.

Ein wunderbarer Urlaub. Am Besten hat mir ... so ziemlich alles gefallen. Klar, gab es auch Streit und Rangeleien und einiges war sehr unorganisiert, aber nichtsdestotrotz gefiel mir die Reise sehr. Schade, dass sie dann schon vorbei war.
Ein Hoch auf Maarja Küla und ein DANKE an alle.

Bilder für euch, die gibt es zahlreich HIER.
Da sie von fast zehn verschiedenen Kameras stammen, sind sie nicht sortiert. Klickt euch durch!

Head aega,
Marcel